Was wäre, wenn du bereits alle Disziplin hättest, die du brauchst?
Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich neige dazu, mich selbst als undiszipliniert zu beschreiben, wenn ich mal wieder mit einem guten Vorsatz gebrochen habe. Dann setze ich normalerweise gleich einen neuen, übergeordneten guten Vorsatz: Ich brauche mehr Selbstdisziplin. Gerade eben habe ich feststellen müssen, dass ich nicht genug habe, oder? Logisch, dass ich mehr brauche, nicht?
So scheint es.
Was ich in solchen Situationen tatsächlich benötige: mehr Köpfchen. Mehr lernen aus Erfahrungen. Mehr Unterscheidung. Mit Unterscheidung meine ich mehr Klarheit und Trennschärfe zwischen einzelnen Begriffen, aber auch zwischen den Konzepten, die ich verwende.
Die Leute, die von außen ultradiszipliniert aussehen, haben schlicht und einfach enorm starke, gute, hilfreiche Gewohnheiten. Diese ermöglichen es ihnen, ausdauernd, regelmäßig und beständig das Hilfreiche und Erwünschte zu tun. Das müssen wir uns klarmachen, verstehen und verinnerlichen.
Dann haben wir den Schlüssel zu Erfolg und Glück in der Hand.
Hinzu geben wir noch eine gute Portion 80/20-Prinzip – und, noch besser: „The One Thing“ („die EINE Sache“) –, dann können wir Naturgewalten der Produktivität und Monster des Erfolges werden. Zu „die eine Sache“ in Bezug auf Gewohnheiten und Disziplin komme ich gleich noch.
Den scheinbar Ultradisziplinierten fällt es in der Regel ganz leicht, Disziplin zu halten. Sie haben eine tiefsitzende Gewohnheit daraus gemacht. Was bedeutet, es ist ihre Grundeinstellung, so zu handeln. Menschen unter Stress, Zeitdruck, Müdigkeit und in emotionalen Nöten fallen immer wieder auf ihre Grundeinstellung zurück. Deshalb greifen werdende Nichtraucher bei Müdigkeit und Stress so oft wieder auf ihre Standardmedizin zurück.
Entgegen der landläufigen Meinung ist Nikotin keine suchterzeugende Chemikalie. Rauchen ist eine enorm tiefsitzende Gewohnheit – erschwerend kommt hinzu, dass Raucher sich als Raucher definieren (= Identität) und als süchtig. Es ist schwer für Menschen, ihre Identität auszulöschen. Dahinter ist nichts, denken wir. Dann lieber Raucher sein als mit der ewigen Dunkelheit der Nicht-Identität konfrontiert werden.
Ist deine Grundeinstellung von negativen, selbstschwächenden, unerwünschten Gewohnheiten geprägt, fällst du darauf zurück, sobald es in deinem Leben schwierig wird.
Für die Superdisziplinierten kostet es kaum Willenskraft und mentale Energie, ihre erwünschten Verhaltensweisen zu zeigen. Das ist die Magie der Gewohnheiten. Gewohnheiten sind quasi der Weg des geringsten Widerstandes in unserem Nervensystem. Es braucht kaum Energie, Anstrengung und Willenskraft, sie zu aktivieren.
Am letzten Freitag konnte ich es wieder einmal erleben. Ich freute mich bereits auf ein frühes Wochenende. 14:00 Uhr nach Hause gehen. Schön. Leider gab es in einer wichtigen Phase eines unserer Projekte noch einiges zu klären. Also blieb ich bis 19:00 Uhr. Habe ich erwähnt, dass ich in Aussicht auf ein frühes Wochenende keine Pause gemacht hatte und um 6:45 Uhr begonnen hatte? Also ging ich nach über zwölf Stunden nach Hause. Das Erste, was ich zu Hause machte? Ich holte mein Schreibzeug, setzte mich auf die Terrasse mit Blick ins Tal und auf die Alpen und schrieb fröhlich vor mich hin.
Es kam ganz natürlich. Es machte mich freudvoller. Ich genoss es. Keine Disziplin nötig. Das war ununterbrochen in Folge der 478. Tag, an dem ich für Veröffentlichung geschrieben hatte. An diesem Punkt kann ich behaupten, es ist eine starke, tiefsitzende Gewohnheit geworden. (Aktuell März 2024: 722 Tage mit einer Ausnahme).
Jetzt genieße ich die Früchte des Säens und Pflegens dieser Gewohnheit. Wie ich das gemacht habe, beschreibe ich hier. Das tägliche Schreiben ist der größte Erfolg aus dieser Vorgehensweise für mich. Ebenso sehr gute Erfolge verzeichne ich mit meiner Abendroutine „3 Gains“ (3 Gewinne) nach Dan Sullivan. In 450 Tagen habe ich diese nur 23 Tage nicht ausgeführt.
Trainieren etwas stotternd im Moment. Monatelang recht gut, dann ein bis zwei Monate nicht, jetzt wieder recht gut. (Update März 2024. Nach Neustart läuft es jetzt viel besser)
Essen und nüchtern leben, schlechte Ergebnisse. (Update März 2024. Nach Neustart läuft es jetzt mit dem Essen viel besser (Carnivore seit 28.12.23))
Was machte den Unterschied aus? Was brachte den stellaren Erfolg beim Schreiben?
Unbeirrbare Entschlossenheit und Fokus in den ersten Monaten.
Das ist eine Entscheidung, die du triffst. Jeden Tag wieder neu.
Ich habe dem täglichen Schreiben für mehrere Monate ABSOLUTE PRIORITÄT gegeben (das tue ich noch heute, aber jetzt aus Gewohnheit). Ich habe alles andere dagegen niedrig priorisiert und entschieden, dass es unwichtig ist.
Das bringt eine wichtige Frage auf: Wie lange dauert es, bis du eine Gewohnheit geschaffen hast? Kommt darauf an. In der Selbsthilfeszene geistern Angaben wie 21 Tage, 30 Tage oder 66 Tage herum. Das halte ich für hanebüchenen Unsinn.
Die meisten deiner selbstschwächenden Gewohnheiten (auch die guten, auch Denkgewohnheiten (a. k. a. Glaubenssysteme)) sind in einem Lebensabschnitt entstanden, als du hochgradig beeinflussbar warst. Ein Kind bis zum siebten Lebensjahr lebt konstant in Gehirnwellenmustern, die denen in Hypnose ähneln. Deshalb können Kinder so fantastisch gut und schnell lernen. Drei Sprachen parallel lernen? Kein Problem.
Für die anderen Gewohnheiten hattest du Jahre, in denen sie sich schleichend gebildet haben. Anzunehmen, du könntest eine 20 Jahre alte Gewohnheit in 21 Tagen mit einer neuen überschreiben, ist naiv. Siehe dazu auch meinen Blogpost „Die Lüge der 21-Tage-Gewohnheiten“.
Monate bis Jahre trifft es besser. Es kommt darauf an, welche Grundeinstellung du mitbringst. Beim Schreiben hatte ich durch ein paar Jahre Morgenseiten schreiben schon eine gute Grundlage. Diese hatte ich auch durch ein Jahr (2017–2018) unbeirrbare Entschlossenheit geschaffen. Das hilft.
Beim Etablieren der neuen Gewohnheit „Jeden Tag nüchtern leben“ bringe ich über 30 Jahre Gewohnheitstrinken und soziales Gemeinschaftstrinken mit. Da ist mein aktueller Zeitrahmen auf die nächsten 3–5 Jahre fokussiert. Ja, einen solch langen Zeitraum plane ich ein, um diese neue Gewohnheit des Unterlassens zu erschaffen.
In meiner Serie „Neue Gewohnheiten, neues Leben“ beschreibe ich noch, dass man maximal drei Stränge der Gewohnheitsbildung gleichzeitig am Laufen hat. (Grafik mit den Strängen einfügen)
Jetzt, nach fast zwei Jahren, kann ich sagen: lieber nur eine Gewohnheit pro Zeitraum. Eine Sonderstellung könnten hierbei allerdings die Unterlassen-Gewohnheiten einnehmen. Hier müssen wir schließlich nichts zusätzlich tun, keine Zeit dafür aufwenden. Dies ist von Fall zu Fall abzuwägen. Überlade dich nicht mit neuen Gewohnheiten. Bedenke, wenn du pro Jahr auch nur drei neue Gewohnheiten erschaffst, hast du in fünf Jahren 15 neue Gewohnheiten, die wahrscheinlich deinen Erfolg, deine Lebensenergie und deine Lebensfreude verzehnfachen.
Wir müssen unseren zeitlichen Horizont enorm ausdehnen und viel geduldiger mit uns werden. Reduzieren. Weglassen. Jetzt auf eine wichtige Sache fokussieren. Das bringt ERFOLG.
Vielleicht fühlst du dich nach sechs Monaten schon sicher, etwas Neuem Priorität zu geben. Vielleicht nach neun oder zwölf Monaten. Du wirst es spüren, wie automatisch die Aktion bereits geworden ist. Vor allem, wenn du zwölf Stunden im Büro warst, müde und gestresst bist und dann dennoch erst deine gewählte Gewohnheit ausführst. Das ist ein gutes Zeichen.
Wie ich bei meinen 722 Tagen mit einer Ausnahme festgestellt habe, müssen wir jedoch immer wachsam bleiben. Diese eine Ausnahme ist kein Weltuntergang und sie schmälert den Erfolg nicht. (15 Ausnahmen wären pro Jahr erlaubt.) Aber wenn dir eine Tätigkeit oder Gewohnheit enorm wichtig ist, bleibe auch nach eineinhalb Jahren weiterhin wachsam. Wir wollen nicht, dass sich der Schlendrian wieder einschleicht – die alten, selbstschwächenden Gewohnheiten lauern ständig auf ihre Gelegenheit.
Bleibe eher defensiv am Anfang, bis du den Prozess gut kennst. In 3–5 Jahren kannst du vermutlich viel besser bewusst neue Gewohnheiten erschaffen. Dann kannst du kreativ werden. Derzeit fühle ich mich nicht sicher genug, eine weitere Gewohnheit in den Hauptfokus zu nehmen. Ich habe dabei schon noch andere, aber nicht so strenge, die gleichzeitig laufen. Das sehe ich eher als vorbereitende Maßnahme für die zukünftigen neuen Gewohnheiten, für die ich eine gewaltige Datenautobahn in meinem Nervensystem schaffen möchte. Steter Tropfen höhlt den Stein.
Die Hauptsache muss die Hauptsache bleiben.
Bei den anderen Gewohnheiten bewege ich mich möglichst innerhalb der gewählten Bedingungen, verurteile mich jedoch nicht, wenn ich es nicht schaffe. Auf diese Weise lege ich schon ein Fundament für die Zeit, wenn ich später den Hauptfokus auf eine dieser Nebengewohnheiten lege. So habe ich nebenher schon tägliches Training, tägliche 4:00-Uhr-Routine, tägliches Diktieren und Optimieren von Rohtexten für den Lektor und so weiter. Dabei verfolge ich aber eben eher einen einfachen Ansatz.
Mit der Selbstdisziplin verhält es sich so, dass wir gerade so viel brauchen, um die Gewohnheiten zu starten und am Laufen zu halten. Mit mentaler Kraft die Kontrolle über alle Lebensbereiche behalten zu wollen ist keine weise Strategie. Sie führt zu einem miserablen Leben.
Die Kunst, ein superdiszipliniertes Leben zu erschaffen, ist also eher bewusstes Gewohnheitsdesign, also eine eigenverantwortliche Gestaltung der Gewohnheiten. Das ist das Zauberwort. Das ist der Schlüssel für ein wahrhaft erfolgreiches Leben.
Bis zu 40 Prozent deines Lebens sind durch Gewohnheiten gesteuert, fand man in Versuchen heraus. Eine hohe Anzahl deiner täglichen „Entscheidungen“ sind also gar keine. Sie sind roboterhafte Reaktionen auf innere und äußere Reize. Gewohnheiten.
Was wäre, wenn du es schaffen würdest, diese 40 Prozent durch positive, ermächtigende Gewohnheiten steuern zu lassen?
Eine neue erwünschte, stärkende, ermächtigende, glücklich machende Gewohnheit nach der anderen. Wie würde dein Leben aussehen, wenn du in den nächsten drei Jahren fünf neue ermächtigende, befriedigende, stärkende, energieschaffende Gewohnheiten erschaffst, die andere, unerwünschte verdrängen?
Spiele ein wenig mit dieser Idee und Vision.
Hier kommt etwas ins Spiel, dessen wahre Macht sich mir erst seit einiger Zeit enthüllt: „die EINE Sache“ („The One Thing“) von Gary Keller. Das ist praktisch 80/20-Prinzip oder Paretoprinzip auf Steroiden.
Weise Wahl unserer Gewohnheiten.
Welche Gewohnheiten werden uns langfristig das meiste bringen? Mit welchen Gewohnheiten hole ich bei geringstem Aufwand die größtmögliche positive Wirkung für mich und meine Ziele?
Oder eben die Fokus-Frage aus Gary Kellers Buch:
Was ist die EINE Gewohnheit, die ich erschaffen kann, so dass alles andere einfacher oder unnötig wird?
Was ist die EINE Sache, die ich aufhören und unterlassen kann, so dass alles andere einfacher oder unnötig wird?
Lass dich hier aber nicht von „Entscheidungsfindungslähmung“ beeinträchtigen. Bedenke es klar und tief, ja. Aber denke nicht monatelang darüber nach, bevor du anfängst. Unterwegs wirst du noch genug Zeit zum Beobachten, Analysieren und Nachdenken haben. So wie ich nach einem Jahr mit der Methode neue Erkenntnisse gewonnen habe, wirst auch du Einsichten gewinnen und dein System anpassen können.
Ja, dein System.
Denn du sollst daraus deinen eigenen Prozess zur bewussten Gewohnheitsgestaltung, zum Gewohnheitsdesign, machen. Meine Texte sind nur die Startrampe für deine Reise, deinen Prozess.
Mit was also, denkst du, wirst du das meiste für dich herausholen?
Wir können nicht alles sein und tun. Unsere Zeit in dieser Erfahrung als Mensch auf der Erde ist begrenzt. Wer willst du sein, was tun? Wofür willst du stehen? Was willst du erschaffen oder zum Ausdruck bringen?
Du musst nicht warten, bis das Leben dir deinen Lebenssinn offenbart. Das Leben ist die Frage. Du lieferst die Antwort. Nicht andersherum.
Was willst du zur Welt bringen? Was ist jetzt wichtig? Was willst du lernen?
Dann wendest du selektive Disziplin darauf an. So lange, bis die Gewohnheit gestartet, am Laufen gehalten und dann zu einer Datenautobahn in deinem Nervensystem geworden ist – zum Weg des geringsten Widerstandes, zu deinem neuen Automatikmodus.
Dann gleich noch mal und noch mal.